Text "Vater, o Vater"

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Vater, o Vater

1. Vater, oh Vater, wie ist mir so bang.
Mein Ohr schmerzt vor berstenden Tönen,
wie von Müttern, die schrie'n drei Tage
nach ihren kriegstoten Söhnen,
nach ihren kriegstoten Söhnen.

Sei ruhig, mein Kind, und sag, hörst du denn nicht:
Aus den Lautsprechern klingen die Lieder.
Wenn an deinem Ohr sich ihr Wellenschlag bricht,
wirst du still, und der Schmerz kommt nicht wieder,
wirst du still, und der Schmerz kommt nicht -

2. Vater, oh Vater, mein Auge, das brach
von dem, was ich sah auf der Reise:
Kindergesichter, so bleich und so schwach
und Blicke, die flehten um Speise,
Blicke, die flehten um Speise.

Sei ruhig, mein Kind, und sag, siehst du denn nicht
auf der Leinwand den Film und die Farben!
Deine Augen lass sattwerden an ihrem Licht,
und vergiss die in Dunkelheit darben,
und vergiss die in Dunkelheit -

3. Vater, oh Vater, wie brennt mir der Mund
von den Früchten, die ich genossen.
Dunkel erahn ich den schaurigen Grund:
Da ist Menschenblut drüber geflossen,
Menschenblut drüber geflossen.

Sei ruhig, mein Kind, vielleicht bist du ja krank.
und hast etwas Schlechtes gegessen.
Drum magst du jetzt ruh'n, und hier nimm diesen Trank,
der schenkt dir ein schnelles Vergessen,
der schenkt dir ein schnelles -

4. Vater, oh Vater, wie riecht diese Luft,
ich weiß nicht, wie soll ich es nennen?
Schlimmer noch als in der Totengruft,
als ob menschliche Leiber verbrennen,
menschliche Leiber verbrennen.

Sei ruhig und schließe das Fenster, mein Kind,
und hier, nimm den Strauß Margeriten!
Wir woll'n froh sein, dass wir im Hause hier sind
und den Herrgott für die draußen bitten,
und den Herrgott für die draußen -

5. Vater, oh Vater, ich fühl eine Hand
an der Ferse so fest, und ich spüre
wie sie nun zerren an meinem Gewand
und zieh'n mich hinüber zur Türe,
und zieh'n mich hinüber zur Türe.

Sei ruhig, mein Kind, und steh, wo du 'stehst!
Dann kann dir gar nichts passieren.
Doch dass du dich ja nicht zu ihnen umdrehst!
Du würdest dich sonsten verlieren,
du würdest dich sonsten -

6. Vater, oh Vater, jetzt ist es gescheh'n.
Lang hab' ich dir angehangen.
Doch jetzt hab' ich meine Brüder und Schwestern gesehen
und bin mit ihnen gegangen.


T+M: Wolfram Behmenburg (2022)



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